Nicht nur verwundet, sondern auch heil!

Wenn wir an Trauma und unsere traumatischen Erfahrungen denken, empfinden oder sehen wir zu allererst die Verwundungen, den Schmerz, die Angst und all das, was mit der Traumatisierung verbunden ist. Unser Blick ist zumeist ganz auf all das Belastende gerichtet.

Wenn wir jedoch unseren Blick weiten und erkennen, dass wir in uns auch gesunde Anteile haben, dann unterstützt uns dies enorm in unserem Heilungsprozess.

Deshalb ist es wichtig, uns bewusst zu machen, dass wir nicht nur oder ausschließlich verwundet sind, sondern neben unseren verletzten Anteilen stets auch unversehrte, heile Anteile in uns haben. Wenn wir dies erkennen, unsere heilen Anteile nach und nach entdecken und uns bewusst machen, so stärkt uns dies; wir gewinnen an Kraft und Lebendigkeit und erleben uns als „normaler“ und gesünder als zuvor.

Indem wir z. B. den Fragen nachgehen, wo wir uns sicher fühlen, worüber wir uns freuen, in welchen Momenten wir Kraft oder Mut verspüren, wen wir lieben oder in welchen Situationen wir humorvoll sind und lachen, können wir unsere gesunden Anteile entdecken – unsere Freude, unsere Kraft und unseren Mut, unsere Liebe und Zuneigung, unseren Humor – und feststellen, dass wir diese Anteile in uns haben und wir sie da und dort, mitunter öfter als wir vermuten, erleben können.

Wenn wir versuchen, in unserem Alltag bewusst auf diese Anteile zu achten und ihnen in unserem Leben Raum geben und sie pflegen, dann unterstützen und stärken wir sie.

Dabei geht es nicht darum, unsere Verwundungen und Belastungen zu verleugnen, zu ignorieren oder zu bagatellisieren, sondern vielmehr darum, sowohl diese, als auch unsere gesunden Anteile zu sehen und zu würdigen. Es geht also darum, dass wir uns mit einem umfassenden Blick sehen, sodass wir uns nicht nur als verletzt, sondern auch als gesund und heil erkennen.

Dadurch erleben wir uns nach und nach vollständiger, umfassender, ganz und lebendiger.

Zudem unterstützen uns unsere gesunden Anteile dabei, unsere traumatischen Erfahrungen zu verarbeiten und uns von deren Auswirkungen zu befreien. Damit dies möglich ist, ist es hilfreich, dass wir unsere gesunden Teile nicht nur erkunden, sondern ihnen in unserem Alltag bewusst Aufmerksamkeit schenken und sie mehr und mehr in unser Leben integrieren. Beispielsweise indem wir bewusst Orte aufsuchen und Tätigkeiten ausüben, die uns Freude bereiten, guttun oder uns Kraft schenken. So können wir z. B. beim Tanzen, Singen oder Musizieren Freude erleben und uns lebendig fühlen. Beim Ausüben von Kraftsport oder auch nur einfachen Kraftübungen wie etwa Kniebeugen oder Liegestützen erleben wir uns vielleicht kraftvoll, stark und zentriert und sind dadurch mit unserer inneren Kraft verbunden. Einfache Schwing- und Schaukelbewegungen sowie Schaukeln oder Wippen beruhigen uns und lassen uns in unsere Mitte kommen, so dass wir uns zentriert und mit unserem Inneren verbunden fühlen und innere Ruhe verspüren. Auch wenn wir Mantren oder Vokale tönen oder pfeifen und summen können wir dies erleben und dadurch mit unserem unversehrten Inneren verbunden sein.

Die „Drei gute Dinge“-Übung von Martin Seligman ist eine weitere Möglichkeit, mit der wir uns unsere gesunden Anteile bewusst machen können. Dabei geht es darum, täglich drei Dingen aufzuschreiben, die an diesem Tag gut waren. Wir können diese Übung, die nachweislich Depressionen und Ängste reduziert, ergänzen, indem wir uns fragen, was wir selbst dazu beigetragen haben, dass „die guten Dinge“ geschehen konnten. Hatten wir z. B. ein nettes Gespräch mit einer Nachbarin, so entdecken wir vielleicht, dass es zustande kam, weil wir ihr offen und freundlich begegnet sind.

Indem wir uns unsere gesunden Anteile bewusst machen und sie unseren verletzten gegenüberstellen, können wir erkennen, dass unsere heilen Teile den verwundeten entgegenwirken und sie abfedern; gleich einer Schale einer Balkenwaage, deren Gewicht das der anderen ausgleicht. Je mehr wir uns unsere gesunden Anteile bewusst beachten, sie in unseren Alltag einfließen lassen und sie stärken, umso mehr kann die Schale mit unseren gesunden Teilen an Gewicht gewinnen. So kann sie das Gewicht der Schale mit der Last und Belastung der traumatischen Erfahrungen und ihrer Auswirkungen abpuffern und ausgleichen.

Uns unsere gesunden Anteile bewusst zu machen und sie zu stärken ist einer der wichtigsten Schritte auf dem Weg der Heilung von traumatischen Erfahrungen. Sie unterstützen uns nicht nur in unserem Heilungsprozess, sondern helfen uns dabei, uns lebendiger und vollständiger zu fühlen, mehr wir selbst zu sein und schließlich an Lebensqualität zu gewinnen.