Die Kraft des Augenblicks

Wenn wir traumatische Erfahrungen gemacht haben, dann ziehen uns Gedanken, Erinnerungsfetzen und Gefühle oder Körperempfindungen oft zurück zu dem, was wir erlebt haben; so als würden wir in die Vergangenheit zurückgezogen werden. Oder als würde die Vergangenheit in die Gegenwart herüberschwappen und uns einhüllen. Wir haben dann häufig auch Gefühle, wie Traurigkeit oder Wut, oder körperliche Zustände, wie Unruhe oder Übelkeit, die wir nicht zuordnen können, und die uns von der Gegenwart trennen. Oft haben wir dann das Gefühl, gar nicht wirklich da zu sein. So als würden wir nicht wirklich am Leben teilnehmen.

Wir können dem entgegenwirken, indem wir ganz bewusst versuchen, uns auf das Hier und Jetzt zu besinnen. Das können wir auf ganz unterschiedliche Weise tun.

Mit unseren Sinnen wahrnehmen

Zum Beispiel, indem wir bewusst mit unseren Sinnen wahrnehmen; wenn wir darauf achten, was wir hören, etwa das Ticken einer Uhr oder das Zwitschern eines Vogels, dann sind wir ganz im Hier und Jetzt. Ebenso, wenn wir die Sonne oder den Wind auf unserer Haut spüren oder an einer Rose oder einer wohlduftenden Seife riechen. Oder wenn wir eine Stück Schokolade auf unserer Zunge zergehen lassen oder eine Tasse Kaffee genießen.

Uns erden

Auch wenn wir uns erden und unsere Aufmerksamkeit zu unserem Körper richten, gelangen wir ins Hier und Jetzt. Etwa, indem wir im Stehen bewusst den Boden unter unseren Füßen oder die Wirkung der Schwerkraft und unser Gewicht spüren. Oder, indem wir im Sitzen unser Gesäß wahrnehmen und spüren, wie wir in den Sessel sinken. Erden können wir uns aber auch mittels einfacher Körperübungen; zum Beispiel, indem wir in einer Grätsche stehen, in eine leichte Hocke gehen und unser Gewicht langsam von einem Bein auf das andere verlagern und dabei unser Gewicht und unsere Kraft spüren.

Kraft und Bewegung wahrnehmen

Eine weitere Möglichkeit, ganz ins Hier und Jetzt zu kommen, ist bewusst wahrzunehmen, wie wir uns bewegen; etwa, indem wir beim Gehen spüren, wie wir einen Fuß nach dem anderen auf den Boden aufsetzen und abrollen. Auch wenn wir uns strecken und dabei bewusst in unseren Körper hineinspüren und wahrnehmen, wie sich unsere Hände, Arme oder Füße und Beine anfühlen, wenn wir sie dehnen, gelangen wir ins Hier und Jetzt. Dabei können wir auch unsere körperliche Kraft spüren, was uns ein Gefühl der inneren Stärke vermitteln kann.

Dafür lassen sich auch einfache Kraftübungen gut nützen, die uns ebenfalls ermöglichen, ganz im Moment zu sein. Etwa Kniebeugen oder das Heben von Gewichten. Wenn wir dabei wahrnehmen, wie wir unsere Muskeln anspannen und entspannen, sind wir ganz im Hier und Jetzt.

Bewusst Tätigkeiten ausführen

Eine weitere Möglichkeit, ganz im Moment zu sein, ist bewusst Tätigkeiten auszuführen bzw. bewusst zu beobachten und wahrzunehmen, wie wir etwas tun; zum Beispiel wenn wir Geschirr waschen, Gemüse schneiden oder unser Bad putzen.

Bewusst atmen

Schließlich ist unser Atmen eine Möglichkeit, jederzeit ins Hier und Jetzt zu gelangen. Etwa, wenn wir eine Hand auf unseren Bauch und eine auf unsere Brust legen und beobachten, wie sich diese mit dem Einatmen etwas heben und mit dem Ausatmen leicht senken. Ganz von allein.

Alle diese Übungen haben eine Reihe von Wirkungen:

  • sie wirken auf unseren Körper regulierend und beruhigen unser Nervensystem,
  • so dass wir auch innerlich ruhig werden,
  • wir können uns mit ihrer Hilfe zentrieren und in unsere Mitte finden,
  • wir können mit ihrer Hilfe innere Distanz zu aufwühlenden, belastenden Gefühlen, Gedanken, Erinnerungen und Körperempfindungen gewinnen, und
  • wir können uns präsent und damit kraftvoll und
  • lebendig fühlen.
  • Indem diese Übungen auf unser Nervensystem beruhigend wirken, verringern sie zudem das Risiko, dass wir auf einen Trigger mit einer Kampf- oder Fluchtreaktion antworten.1
  • Schließlich vermindern sie bei regelmäßiger Anwendung nachweislich unsere posttraumatischen Symptome2 sowie Depressionen und chronische Schmerzen1.

Ideal ist es, wenn es uns gelingt, diese oder ähnliche Übungen der Achtsamkeit und es Gewahrseins in unseren Alltag einzubauen. Etwa, indem wir beim morgendlichen Duschen spüren, wie das Wasser über unseren Körper fließt, oder wir am Weg zum Bus die Blumen oder Bäume am Wegrand wahrnehmen.

Wenn wir bewusst wahrnehmen, was wir gerade im Moment wahrnehmen können (sehen, hören, riechen, fühlen, schmecken) unterstützt uns das im jeweiligen Moment, um uns zu beruhigen und Abstand zu belastenden Gedanken, Gefühlen etc. zu gewinnen. Dadurch können wir erleben, dass wir unser Befinden beeinflussen können. Das stärkt unser Gefühl der Selbstbestimmung und der Selbstwirksamkeit. Und das wirkt wiederum unserem Gefühl der Ohnmacht entgegen.

Wenn es uns gelingt, untertags immer wieder innezuhalten und uns dies zu einer Gewohnheit machen, dann reguliert dies auch nachhaltig unser Nervensystem, sodass sich unsere allgemeines Erregungsniveau etwas beruhigt. Außerdem können wir dann eher bzw. rascher belastende Gefühle, Erinnerungen etc. abfedern und diesen entgegenwirken. Schlussendlich gewinnen wir dadurch an innerer Stabilität und Präsenz. Und das stärkt uns wiederum.

 

Vorsicht: wenn wir unsere Aufmerksamkeit in unseren Körper lenken, und zum Beispiel unseren Atem wahrnehmen, kann dies manchmal auch unangenehm sein oder bedrohliche Gefühle oder Inhalte hervorrufen. Dann ist es wichtig, diese Übung abzubrechen und unsere Aufmerksamkeit bewusst nach außen, auf äußere Eindrücke zu richten; auf das, was wir sehen, hören, riechen. Und uns zu erden, den Boden unter den Füßen zu spüren und uns zu bewegen, zu strecken oder zu dehnen.

 

1Van der Kolk, B. (2016). Verkörperter Schrecken. Traumaspuren in Gehirn, Geist und Körper und wie  man sie heilen kann. Lichtenau/Westfalen: G. P. Probst Verlag.

2Thompson, R. W., Arnkoff, D. B. & Glass, C. R. (2011). Conceptualizing Mindfulness and Acceptance as Components of Psychological Resilience to Trauma. Trauma, Violence, & Abuse, 12(4), 220-235.

In einer traumatischen Situation mobilisiert unser Körper enorme Kräfte, um sich zu verteidigen: entweder um zu kämpfen oder um zu fliehen; wenn beides nicht möglich ist, erstarren oder kollabieren wir.

Die Entscheidung dafür können wir nicht bewusst treffen; sie erfolgt automatisch mit einemreflexhaften Mechanismus“, mit dem unser Nervensystem Signale von Sicherheit oder Gefahr erkennt (Porges, 2019)[1].

Unser Nervensystem wählt also jenen Verteidigungsmechanismus, der unser Überleben bestmöglich sichert.

Wenn wir während eines bedrohlichen Geschehens unsere Verteidigungsmechanismen – Kampf oder Flucht – nicht ausführen bzw. zu Ende bringen können, bleibt die dabei mobilisierte Energie in unserem Körper bestehen. So z. B., wenn wir bei einem Unfall eingeklemmt sind und unserem Impuls, wegzulaufen, nicht folgen können. Oder wenn z. B. ein Kind während einer medizinischen Untersuchung festgehalten wird, und es seinen Verteidigungsimpuls, zu kämpfen und um sich schlagen, nicht ausführen kann. Dann bleiben diese Impulse – des Fliehens oder des Kämpfens – bestehen und äußern sich zum einen in einem stark erhöhten Erregungsniveau und zum anderen in einem Aufflammen der Verteidigungsmechanismen (Flucht oder Kampf) bei bestimmten Reizen, die an das bedrohliche Erlebnis erinnern. Wobei diese Erinnerung oft unbewusst ist und bleibt; vielmehr erinnert sich unser Körper und reagiert entsprechend. Dies erklärt z. B., warum wir in bestimmten Situationen (z. B. wenn uns jemand zu nahe kommt) das Bedürfnis haben, wegzulaufen, und in anderen (z. B. wenn jemand fordernd ist), um uns zu schlagen.

Die mobilisierte und nicht entladene Energie führt in uns also zu einem stark erhöhten Erregungsniveau. Dieses zeigt sich z. B. darin, dass wir sehr unruhig, nervös oder angespannt sind und kaum zur Ruhe finden; wir sind gleichsam hochtourig und rastlos. Das kann sich mitunter darin ausdrücken, dass wir immer etwas tun und in Bewegung sein müssen. Oftmals sind wir auch hochangespannt und gleichzeitig wie eingefroren oder erschöpft, so als würden wir mit dem fünften Gang bei angezogener Handbremse auf der Autobahn fahren.

Das erhöhte Erregungsniveau äußert sich zudem oft in erhöhter Reizbarkeit und Schreckhaftigkeit, verminderter Konzentrations- und Merkfähigkeit sowie in Schlafschwierigkeiten.

Um mit dem erhöhten Erregungsniveaus und seinen Auswirkungen besser umgehen zu können sind zwei Herangehensweisen hilfreich.

1. Regelmäßige Bewegung

Zum einen ist es sinnvoll, in unseren Alltag regelmäßig, am besten täglich, Bewegung einzubauen, in welcher Form auch immer. Das kann Laufen, Springschnurspringen, Tanzen, Radfahren oder Hola Hoop sein. Oder Krafttraining bzw. Kraftübungen wir Kniebeugen oder Liegestütze. Entscheidend ist, dass es eine Bewegungsform ist, die uns Freude bereitet oder Spaß macht. Die Bewegung hilft uns, unser Erregungsniveau zu reduzieren und damit Spannungen und Unruhe etwas abzubauen.

Regelmäßige Bewegung – sowohl Ausdauertraining wie Laufen oder Walken, als auch Krafttraining wie Kniebeugen und Liegestütze – reduziert zudem nachweislich Ängste und Depressionen sowie Schlafstörungen; entscheidend ist dabei eine moderate Ausübung, mit der wir uns nicht überfordern (u. a. Hegberg et al., 2019[2]; Rosenbaum et al., 2017[3]).

Sinnvoll ist es, mit kleinen Bewegungseinheiten von etwa zehn Minuten pro Tag zu beginnen und diese allmählich auszuweiten.

2. Tools, die auf unser Nervensystem beruhigend wirken

Zum anderen sind einzelne Tools bzw. Übungen hilfreich, die auf unser Nervensystem beruhigend wirken. Zu diesen zählen z. B. die folgenden:

  • Doppelt so lange aus- wie einzuatmen: beim Einatmen z. B. bis zwei zählen und beim Ausatmen bis vier oder beim Einatmen ganz langsam bis eins, und beim Ausatmen bis zwei)1.
  • Summen, Singen, Pfeifen oder Tönen von Selbstlauten wie A oder O oder des Mantras Om; dadurch verlängern wir automatisch unser Ausatmen. Zudem wird dadurch der Vagusnerv, der ein wesentlicher Teil unseres Parasympathikus ist, stimuliert1.
  • Langsame Bewegungen wie z. B. unseren Kopf waagrecht von einer Seite zur anderen drehen und dies einige Minuten beibehalten. Bewegungsabläufe des Qi Gong oder Thai Chi.
  • Schaukel- und Wippbewegungen, indem wir im Sitzen hin- und herschaukeln oder vor- und zurückwippen, auf einer Schaukel schaukeln oder in einem Schaukelstuhl vor- und zurück wippen1.
  • Unsere Handgelenke, unser Gesicht oder unsere Unterarme mit kaltem Wasser abspülen bis sich unser Körper an die Kälte gewöhnt hat. Oder unsere ganzen Beine und Arme kalt abduschen. Zu Beginn stimuliert die Kälte unseren Sympathikus; hat sich jedoch unser Körper an die Kälte adaptiert, wird dadurch unser Parasympathikus aktiviert, so dass wir uns beruhigen. Bei regelmäßiger Anwendung kalibriert sich dadurch gleichsam unser Nervensystem neu[4].
  • Erdungsübungen, bei denen wir z. B. den Kontakt unserer Füße zum Boden oder unseres Pos zur Sitzfläche wahrnehmen. Dabei können wir uns geerdet und gehalten bzw. getragen fühlen und ins Hier und Jetzt kommen.

Alle diese Übungen wirken auf unser Nervensystem beruhigend ein, indem sie den Vagusnerv stimulieren. Wenn es uns gelingt, sie täglich und wiederholt anzuwenden, können wir so unser Erregungsniveau etwas drosseln und dadurch etwas ruhiger und ausgeglichener werden.

Wir können die Übungen unterstützen, indem wir währenddessen versuchen, aufmerksam und bewusst unseren Körper wahrzunehmen (z. B. unser Ein- und Ausatmen oder eine bestimmte Bewegung). Dies ermöglicht uns, im Hier und Jetzt zu sein, was wiederum beruhigend auf uns wirkt.


[1] Porges, S. W. (2019). Die Polyvagal-Theorie: Eine Einführung. In: Porges, S. W. & Dana, D. (Hrsg.). Klinische Anwendungen der Polyvagal-Theorie. Ein neues Verständnis des Autonomen Nervensystems und seiner Anwendung in der therapeutischen Praxis. S. 67-85. Lichtenau/Westfalen: G. P. Probst.

[2] Hegberg, N. J., Hayes, J.P. & Hayes, S.M. (2019). Exercise Intervention in PTSD: A Narrative Review and Rationale for Implementation. Frontiers in Psychiatry 10, 133. doi:10.3389/fpsyt.2019.00133

[3] Rosenbaum, S., Stubbs, B., Schuch, F. & Vancampfort, D. (2017). Exercise in Posttraumatic Stress Disorder. In: Fuchs, R. & & Gerber, M. (Hrsg.). Handbuch Stressregulation und Sport. S. 375-387. Heidelberg: Springer.

[4] Mäkinen, T. M. et al. (2008). Autonomic Nervous Function During Whole-Body Cold Exposure Before and After Cold Acclimation. Aviation, Space, and Environmental Medicine, 79(9), 875-882. doi: 10.3357/ASEM.2235.2008